Rede zur Gründung von Bündnis 90/ Grüne in Sachsen (Zwickau, am 27. 9. 1991)

Jeder Vogel hat sein Nest, in dem er seine Eier ausbrütet. Jeder Baum hat ein Stück Erdreich, in das er seine Wurzeln schlägt und aus dem er seine Kraft bezieht. Jeder Mensch sollte ein Zuhause und ein Stück Heimat haben, von wo aus er seinen Platz in der Gesellschaft bestimmen kann. Und jede politisch interessierte Person braucht darüber hinaus ein Stück politische Heimat, wo ihr aus der Diskussion Gleichgesinnter die Kraft für aktives, veränderndes Handeln in der Gesellschaft erwächst.

Politische Heimat ist nicht gleichzusetzen mit dem Ort politischen Handelns. Wir, die Gründungsmitglieder von Bündnis 90/ Grüne in Sachsen und die anwesenden Gäste stehen an ganz unterschiedlichen Orten im Staate. Ob wir nun Kreistagsabgeordnete, Gleichstellungsbeauftragte, Mitglieder freier Schulträger, Gewerkschaftssekretäre, Mitglieder von Bürgerinitiativen oder auch Landtagsabgeordnete sind - an all den Orten, wohin es uns nach der Wende getrieben hat, sollen wir möglichst - sofort und mit voller Kompetenz Mann oder Frau stehen. Dabei standen wir vor der Wende an ganz anderen Orten: wir engagierten uns in Umweltgruppen, in kirchlichen Gesprächskreisen, in Friedensseminaren, in Menschenrechtsgruppen und allen möglichen oppositionellen Zirkeln.

Hatten wir damals eine politische Heimat? Offiziell natürlich nicht. Aber für viele von uns ersetzte das Dach der Kirche dort wo es um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der natürlichen Umwelt ging, dieses politische Zuhause. Andere von uns fanden in Freundeskreisen, die sich an Küchentischen trafen, ihr politisches Domizil.

Die politischen Orte sind andere geworden und eine neue politische Heimat muß sich finden. Deswegen sind wir hier in Zwickau zusammengekommen, um Bündnis 90/ Grüne für Sachsen zu gründen. Dabei können wir aber feststellen, daß viele der Werte, die bereits Jahre vor der Wende erarbeitet wurden, wie eben Gerechtigkeit, Frieden und Umweltbewahrung, heute für uns ganz neue Gültigkeit erlangen. Es gilt nun, sie unter den errungenen demokratischen Verhältnissen in eine neue politische Heimat aufzunehmen, eine politische Heimat, die über die Tagespolitik hinausreicht.

Errungene Demokratie? Das Pflänzlein, das wir im Herbst 1989 pflanzten, das schnell wuchs und grünte, das den Beton aus Ideologie und Macht zerbrach, diese Pflanze wurde durch den Vereinigungstaumel arg beschädigt. Eine Pflanze, die eine Mauer zum Einsturz bringen konnte, wurde an der harten DM geknickt. Und so zerbrachen Hoffnungen vieler, die diese zarte Pflanze von Anfang an gehegt hatten.

Nun finden wir sie wieder, zurechtgestutzt vom übermächtigen Gärtner, okuliert, gepfropft. Und dieser Gärtner will uns noch in unverschämter Weise glaubhaft machen, er hätte mit dieser Pfropfung die Pflanze Demokratie veredelt, er hätte Wildwuchs kultiviert. Er hat sie "veredelt" durch 40-jährige Paragraphen, durch hölzerne Geschäftsordnungen, durch dornige Finanzvorschriften.

Kann es dann verwundern, daß sich viele Freunde nun in ihr altes Nest zurücksehnen? Vielleicht in den Untergrund, aus dem sie kamen?

Ich sage dies nicht ohne Bitterkeit, denn auch ich habe politische Freunde verloren. Freundinnen und Freunde, mit denen ich mich früher gemeinsam im politischen Untergrund bewegte, mit denen ich "wiegelte" (wie sich meine Freundin Liesbeth auszudrücken pflegte). Diese Freunde scheinen jegliche Form der parlamentarischen Demokratie abzulehnen.

Wenn ich mich als Landtagsabgeordneter trotzdem zum Parlamentarismus bekenne, so tue ich dies nur, weil dieser Stuhl, oder besser: dieser Hocker, auf dem ich sitze, drei Standbeine besitzt:

Das erste Standbein ist das unmittelbare parlamentarische Geschäft, also die Arbeit mit Anträgen, Gesetzentwürfen, Großen und Kleinen Anfragen, Reden und Gegenreden, d.h. alles was die Arbeit eines Parlamentariers üblicherweise ausmacht.

Das zweite Standbein ist die Arbeit mit den Medien, also mit Presse, Funk und Fernsehen; für eine kleine Oppositions­fraktion wie die unsrige überlebensnotwendig. Die Direkt­übertragung im Sachsenradio und die normale Berichterstattung in den Zeitungen reichen für Alternativ-Politiker nicht aus, um gehört zu werden.

Das dritte und wohl wichtigste Standbein ist die Verbindung zur Basis, zu den Menschen, die uns überall begegnen, in Veranstaltungen, auf Bürgerforen, bei Demonstrationen und auch bei solchen Aktionen wie beispielsweise der Blockade des Grenzüberganges Schönberg, als wir gegen die Übernahme der Stasi-Offiziere in den Bundesgrenzschutz protestierten. Also überall dort, wo wir mit Menschen direkt und nicht durch die Medien vermittelt sprechen und ihre Forderungen und Aufträge entgegennehmen. Daß dieses Standbein auch durch die Gründung der Landesorganisation Bündnis 90/ Grüne gestärkt werden soll, wird durch die Präsenz meiner Fraktion an dieser Veranstaltung deutlich.

Bin Hocker auf drei Beinen kann nicht wackeln, das ist ein Gesetz der Statik. Aber er kann schief stehen, nämlich wenn die drei Beine unterschiedlich lang sind. Und wer darauf sitzt, kann leicht abrutschen. Die Landtagsfraktion Bündnis 90/ Grüne in Sachsen wird sich dieser Tatsache bewußt sein.

Liebe Freundinnen und Freunde, wenn wir heute aus drei Bürgerbewegungen und den Grünen in Sachsen, die ich übrigens auch als Bürgerbewegung verstehe, eine neue politische Vereinigung gründen, so will ich dies als Signal verstanden wissen. Ein Signal an alle, die sich in eigene Angelegenheiten einmischen, an alle, die eine politische Kraft suchen, die die Kräfte der Veränderung bündelt und gleichzeitig eine politische Heimat bildet, nicht nur für die bürgerbewegten und grünen Aktivisten, sondern auch für die vielen Entwurzelten und Enttäuschten.

Ich lade Euch herzlich ein, sich kräftig in die Arbeit der Landtagsfraktion einzumischen und wünsche uns allen ein gutes Gelingen auf diesem Wege.

Martin Böttger

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